Eine neue Behandlungsmethode wird in der deutsch-niederländischen Grenzregion entwickelt
Im Rahmen von Interreg VI Deutschland-Nederland werden grenzüberschreitende Projekte genehmigt, die einen wichtigen Beitrag zur Zusammenarbeit in der Grenzregion leisten. Dazu gehört auch das im Juli 2023 gestartete Projekt „Parkinson Vibrating Socks“. Mit den Vertretern des Projektteams Claudia Voelcker-Rehage (Universität Münster), Robert Stojan (Universität Münster), Silke Kärcher (feelSpace GmbH) und Menno Veldman (UMCG) geht das regionale Programmmanagement Interreg in einem Interview auf die Auswirkungen des Projekts für die Menschen, die in der Grenzregion leben, ein.
Wie der Name schon vermuten lässt, richtet sich das Projekt „Parkinson Vibrating Socks“ an Personen, die unter der Parkinson-Krankheit leiden. Sie sollen ein so normales Leben wie möglich führen können. Parkinson betrifft Männer und Frauen, Jung und Alt, und eine Grenze hält die Krankheit natürlich auch nicht auf. Daher war es für die Projektpartner nur logisch, mit dem Wissensaustausch zu beginnen und die Kräfte zu bündeln. Im folgenden Interview wird erläutert, was wir in den kommenden Jahren von dem Projekt erwarten können.
1. Das Projekt befasst sich mit der Verbesserung der Mobilität von Patientinnen und Patienten mit der Parkinson-Krankheit. In dem Antrag beschreiben Sie, dass diese Krankheit eine Reihe von motorischen Symptomen mit sich bringt, wie Zittern der Hände oder Haltungsinstabilität. Wie können Sie mit diesem neuen Projekt Menschen helfen, die darunter leiden?
Robert Stojan: Bei der Parkinson-Erkrankung kommt eine unglaubliche Anzahl von Symptomen zusammen. Wir können sie nicht alle bekämpfen, aber wir können versuchen, ein Symptom, das als sehr belastend empfunden wird, weniger beschwerlich zu machen. Das ist das Hauptziel unseres Projekts. Hierbei geht es um die Behandlung des “Freezing of gait (FOG)“ mit einer sogenannten Cueing-Methode, die ohne zusätzliche Medikamente funktioniert. FOG ist eine Situation, in der die Füße plötzlich am Boden „kleben bleiben“ und man den nächsten Schritt nicht mehr machen kann, was zu Stürzen führen kann. Viele Patientinnen und Patienten ziehen sich zu Hause zurück, wenn FOG regelmäßig in der Öffentlichkeit auftritt. Das hat große Auswirkungen auf die mentale Gesundheit. Gerade durch das Angehen dieses Symptoms können wir den Betroffenen helfen wieder auf die Straße zu gehen und sich in der Öffentlichkeit zu bewegen, oder einfach weiter ihren Sport zu treiben oder Freunde und Familie zu besuchen.
2. Sie wollen u.a. ein Cueing-System entwickeln, das ohne Medikamente funktioniert. Macht das Ihr Projekt einzigartig?
Robert Stojan: Cueing funktioniert tatsächlich auch ohne Medikamente, aber wir sehen es vor allem als Unterstützung zur medikamentösen Therapie, denn Parkinson-Patientinnen und Patienten bekommen bereits Medikamente verschrieben. Das Cueing kann für zusätzliche Verbesserungen sorgen und die medikamentöse Therapie zum Teil komplementieren, v.a. dann, wenn Medikamente ineffizient wirken und/oder nicht anspringen. Ein großer Vorteil der Anwendung von vibrotaktilem Cueing, also Vibrationsreizen, ist, dass es für die Außenwelt nicht sichtbar ist. Auf diese Weise fallen die Patientinnen und Patienten auf der Straße nicht auf, aber ihnen wird dennoch geholfen.
Claudia Voelcker-Rehage: FOG tritt häufig auf, wenn die Krankheit bereits ein fortgeschrittenes Stadium erreicht hat. Genau in dieser Phase werden den Patientinnen und Patienten bereits Medikamente verschrieben, um ihre Beschwerden zu lindern. Diese helfen jedoch nicht immer, FOG zu verhindern. Die Medikamente können zu einem bestimmten Zeitpunkt des Tages sehr gut anschlagen, während sie zu einem anderen Zeitpunkt nicht mehr so gut wirken. Cueing ist dann ein konstanter Faktor und ein Instrument zur Bewältigung des FOG.
Menno Veldman: Was das Projekt außerdem einzigartig macht, ist die Tatsache, dass wir Gebrauch machen von Techniken des maschinellen Lernens. In dem medizinischen Hilfsmittel, das wir herstellen, ist eine Technologie enthalten, die sich sehr schnell an den Input gewöhnt, den sie erhält. Folglich wird ein Stimulus nur dann eingesetzt, wenn er wirklich benötigt wird, d. h. wenn ein FOG im System erkannt wird. Der Einsatz eines solchen Hilfsmittels bleibt daher auch viel länger sinnvoll. So etwas existiert zurzeit noch nicht.
Silke Kärcher bestätigt die Herausforderung des Projekts, FOG schon frühzeitig erkennen zu können. Das ist wichtig, damit die Patientinnen und Patienten keine unnötigen Impulse erhalten, an die sich der Körper gewöhnt, so dass das System auf Dauer weniger effektiv wird. Gerade auch jungen Parkinson-Patientinnen und Patienten, die immer häufiger betroffen sind, möchte man so lange wie möglich ein normales Leben bieten können.
3. Warum arbeiten Sie grenzüberschreitend zusammen?
Robert Stojan: Natürlich macht auch unsere grenzüberschreitende Zusammenarbeit das Projekt einzigartig! In der Grenzregion ist viel individuelles Wissen vorhanden, das wir in dem Projekt miteinander verknüpfen; wir ergänzen uns gut. Es ist auch ein Vorteil, dass wir einen Prototyp für zwei Märkte entwickeln können, so dass er breit einsetzbar ist.Ein weiterer wichtiger Beitrag besteht darin, dass dieses Projekt dafür sorgt, dass die Parkinson-Patientenverbände beider Länder sich austauschen und voneinander lernen können.
Claudia Voelcker-Rehage: Außerdem sind wir hier so nah an der Grenze, dass es sehr sinnvoll ist, mit Partnern aus den Niederlanden zusammenzuarbeiten. Es begann mit einer Zusammenarbeit zwischen der Universität Twente und der Universität Münster und dehnte sich später entlang der Grenze aus, u.a. in Richtung Groningen. Diese Universitäten unterstützen ebenfalls die grenzüberschreitende Zusammenarbeit, so dass wir diese Möglichkeiten nutzen wollten. Als wir miteinander in Kontakt traten, stellten wir auch fest, wie viele Synergien zwischen uns bestehen. Deshalb ist es auch sinnvoll, unsere Kräfte in einem Interreg-Projekt zu bündeln.
4. Sie haben gerade erst angefangen, aber wie gefällt Ihnen die deutsch-niederländische Zusammenarbeit bis jetzt?
Robert Stojan: Sehr gut, wir haben auch ein sehr aktives Projektkonsortium. Wir treffen uns regelmäßig, mindestens einmal im Monat. Unsere Sitzungen sind immer sehr erfolgreich, auch weil wir die gleichen Vorstellungen und Ziele haben. Wir teilen die Vision, dass wir den Patientinnen und Patienten helfen wollen, ein so normales Leben wie möglich zu führen, und das macht die Zusammenarbeit sehr einfach.
Menno Veldman: Stimmt, wir ergänzen uns gut, und es hilft auch, dass wir so nah beieinander arbeiten. Das macht es einfach, auch physische Treffen zu vereinbaren. Unsere Zusammenarbeit verläuft von Anfang an sehr reibungslos.
5. Werden Sie während des Projekts auch mit unterschiedlichen niederländischen und deutschen Gesetzen und Vorschriften im Gesundheitssektor konfrontiert, und wie werden Sie damit umgehen?
Silke Kärcher: Wir als Firma kennen uns bereits gut aus mit den deutschen Regularien, hier haben wir es aber tatsächlich mit zwei Märkten zu tun. Wir werden die entsprechenden Unterschiede der beiden Märkte herausarbeiten, um diese dann bei der Umsetzung des Prototyps einzuarbeiten, so dass wir in beiden Märkten startklar sein werden, sobald der Prototyp zu einem Produkt entwickelt werden kann. Wir haben schon festgestellt, dass es viele Ähnlichkeiten gibt auf dem niederländischen Markt. Es gibt aber auch regionale Unterschiede. Darauf muss man sich einstellen, damit man nicht darüber stolpert.
Robert Stojan: Kurzfristig ist das manchmal eine zusätzliche Herausforderung, aber langfristig bringt es nur Vorteile, weil wir wirklich ein breit einsetzbares Produkt entwickeln.
6. Wie sieht es mit der Akzeptanz Ihrer Projektergebnisse im Gesundheitssektor aus? Haben sich beispielsweise Krankenhäuser schon bereit erklärt, die im Rahmen des Projekts entwickelten medizinischen Geräte zu finanzieren, wenn es sich als erfolgreich erweist?
Silke Kärcher: Studien über aktives Cueing gibt es schon seit einiger Zeit, aber es hat sich herausgestellt, dass die beste Form des Cueings für jeden einzelnen Patienten unterschiedlich sein kann. Wir stehen jetzt vor allem in Kontakt mit Pflegedienstleistern und Ärzten, die Patienten behandeln, darunter das Medisch Spectrum Twente, die Partner in diesem Projekt sind. Wir erhalten viel positives Feedback von ihnen, und sie sagen auch, dass sie den Prototyp zu gegebener Zeit gerne testen möchten, damit wir tatsächlich herausfinden können, wie unsere Cueing-Methode den Menschen am besten helfen kann. Sie finden es auch interessant, dass keine Medikamente im Spiel sind und dass es wirklich etwas Neues ist
Claudia Voelcker-Rehage: Wir haben auch das Glück, dass wir auf deutscher und niederländischer Seite mit großen Parkinson-Netzwerken zusammenarbeiten. Dort finden wir alle Akteure, die für unser Projekt wichtig sind, wie Betroffene, Physiotherapeutinnen und Physiotherapeuten und Ärztinnen und Ärzte. Auch ihnen haben wir das Projekt vor dem Start bereits vorgestellt, um herauszufinden, wie sie darüber denken. Wir erhielten damals viel Zuspruch und auch die Betroffenen gaben an, dass sie gerne mitmachen und helfen würden.
Robert Stojan: Wir beobachten in letzter Zeit auch, dass viele Pflegedienstleister und Patientinnen und Patienten auf uns zukommen, um sich nach dem Stand der Dinge zu erkundigen, weil sie sich gerne beteiligen möchten. Leider ist es im Moment noch etwas zu früh; wir sind gerade erst mit dem Projekt gestartet, aber aus Sicht der Betroffenen kann es natürlich nicht schnell genug gehen. Für uns ist es auf jeden Fall eine große Motivation, mit dem Projekt durchzustarten, denn das Interesse ist groß.
7. Wie wollen Sie die Projektergebnisse mit der Außenwelt / Ihrer Zielgruppe teilen?
Robert Stojan: Es ist ebenfalls Teil des Projekts, unseren Prototyp den verschiedenen Instanzen vorzustellen. Aktuell teilen wir hauptsächlich das Wissen und die Prozesse, mit denen wir bisher arbeiten, unter anderem über die sozialen Medien. Wir haben eine eigene Website, eine Twitter und LinkedIn Seite auf der wir regelmäßig Updates posten und auf der wir auch jede Woche mehr Follower bekommen. Wir hören von Patientinnen und Patienten, dass sie auch gerne über soziale Medien über Projektergebnisse informiert werden möchten. Für uns ist es außerdem wichtig, dass sie uns regelmäßig Feedback geben, denn sie sind diejenigen, die das Produkt künftig nutzen werden. Darüber hinaus ist es wichtig, dass wir Netzwerke aufbauen, damit die Zusammenarbeit in diesem Bereich tatsächlich bestehen bleibt. Ich kann mir gut vorstellen, dass daraus irgendwann ein Folgeprojekt hervorgeht.
Claudia Voelcker-Rehage: Wir haben aber auch ein wissenschaftliches Interesse, das wir parallel dazu verfolgen. Dazu gehören zum Beispiel klassische Veröffentlichungen in Fachzeitschriften, aber auch Vorträge auf wissenschaftlichen Konferenzen. Im Moment geht es noch hauptsächlich darum, alles zum Laufen zu bringen, aber sobald wir die ersten wissenschaftlichen Ergebnisse haben, werden wir auf jeden Fall auch auf dieser Ebene Informationen weitergeben. Denn wir wollen auch die wissenschaftliche Community darüber informieren, was wir tun.
8. Was wollen Sie am Ende der Projektlaufzeit erreicht haben? (z. B. ein marktreifes Produkt oder ein beginnender Prototyp)
Silke Kärcher: Das Projekt ist so aufgebaut, dass wir in mehreren Kreisläufen entwickeln. Nach jedem Entwicklungskreislauf finden Befragungen der Patientinnen und Patienten statt, wobei aber u.a. auch Physiotherapeutinnen/Physiotherapeuten und Angehörige mit eingebunden werden. Das Ziel ist, dass wir am Ende ein „marktnahes Produkt“ haben, worin das Wissen und die Erfahrungen aller Beteiligten eingeflossen sind, sowohl von universitärer Seite als auch durch das Feedback seitens der Betroffenen.
Das RPM erkundigt sich noch, ob es sich, bezogen auf den Projekttitel, bei dem zu entwickelnden Produkt tatsächlich um eine Socke handelt.
Robert Stojan: Darüber beraten wir noch im Konsortium, denn wir könnten das System natürlich in alle möglichen Kleidungsstücke einbauen. Wir könnten das auch mit den Patientinnen und Patienten abstimmen, weil es wahrscheinlich auch viele individuelle Vorlieben gibt.Was die eine Person als angenehm empfindet, empfindet die andere Person als unangenehm.
Claudia Voelcker-Rehage: Es muss nicht unbedingt eine Socke sein, aber es stimmt, dass wir mit einem Prototyp in Form einer Socke begonnen haben. Deshalb der Projektname. Die ganze Idee wird noch weiter ausgearbeitet und es kann durchaus sein, dass wir später beschließen bzw. unsere Voranalysen zeigen werden, dass eine Socke doch nicht die beste Option ist. Das ist auch für uns noch eine Überraschung.
Die Interreg-Finanzierung dieses Projekts stammt aus dem Europäischen Fonds für regionale Entwicklung (EFRE). Durch die Genehmigung dieses Projekts fließen 1.673.698,01 € aus diesem Fonds in die deutsch-niederländische Zusammenarbeit. Darüber hinaus leisten die Interreg-Partner einen Kofinanzierungsbeitrag in Höhe von 717.299,14 Euro. Dabei handelt es sich um deutsche und niederländische Ministerien und Provinzen, darunter das Ministerie van Economische Zaken en Klimaat sowie die Provinzen Overijssel, Gelderland und Groningen auf niederländischer Seite und auf deutscher Seite das Niedersächsische Ministerium für Bundes- und Europaangelegenheiten und das Ministerium für Wirtschaft, Industrie, Klima und Energie NRW. Die Projektpartner leisten zudem einen Eigenanteil von 1.855.015,70 Euro. Dies ergibt eine Gesamtsumme von 4.246.012,85 Euro.